(Un)Gefährliche Migration

Risikobewertung durch In-vitro-Bioassays

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Welche Risiken birgt die Migration? Diese Frage wird aktuell in unterschiedlichen Bereichen diskutiert. Was die Migration aus der Verpackung betrifft, hat man am unabhängigen Prüf- und Forschungsinstitut OFI einen neuen Weg eingeschlagen. Mithilfe von In-vitro-Bioassays sollen Detektion, Identifizierung und Risikobewertung von unbeabsichtigt eingebrachten Substanzen erleichtert werden.

TEXT: Christian Kirchnawy,  Michael Washüttl

Monomere, Additive, Farbstoffe oder Polymerisationshilfsstoffe – Traditionell liegt der Fokus bei der Risikobewertung von Kunststoffen auf den Ausgangsmaterialien, die für die Herstellung der Kunststoffe eingesetzt werden. In der Theorie weiß man daher, wonach man sucht. Gezielte chemische Analysen auf bekannte Ausgangsprodukte von Lebensmittelverpackungen stellen heute keine besonders große analytische Herausforderung mehr dar.

Erweiterte Risikobewertung

Jetzt erweitert sich aber der Fokus der Risikobewertung. Denn für die Sicherheit des Konsumenten zählt letztlich nicht welche Ausgangsmaterialien bei der Produktion eingesetzt werden, sondern welche Substanzen dann tatsächlich von der Verpackung in das Lebensmittel abgegeben werden (können). Bis zu einem gewissen Grad geht es hier natürlich um dieselben Substanzen: Ausgangsstoffe wie Additive und nicht vollständig auspolymerisierte Monomer-Rückstände können von der Verpackung in das Lebensmittel übergehen. Doch darüber hinaus, gibt es noch eine Vielzahl weiterer Substanzen, die aus der Verpackung in das Lebensmittel migrieren können. Dabei handelt es sich um Substanzen, die nie bewusst für die Herstellung der Verpackung eingesetzt wurden, sogenannte NIAS (non-intentionally added substances). Dazu zählen zum Beispiel Abbauprodukte von Additiven oder dem Kunststoff selbst, Nebenprodukte des Polymerisationsprozesses, aber auch Kontaminationen der Ausgangsstoffe. Lange wurden diese unbeabsichtigt eingebrachten Substanzen bei der Risikobewertung kaum berücksichtigt, das ist jetzt nicht mehr möglich: Gemäß der europäischen Kunststoffverordnung VO EU 10/2011 müssen auch NIAS analytisch erfasst und bewertet werden.

Das Dilemma der Verpackungshersteller

Die meisten Lebensmittelkontaktmaterialien weisen eine große Zahl an unterschiedlichen NIAS auf. Diese liegen zwar vor allem in sehr geringen Konzentrationen vor, dennoch häufig über dem technischen Grenzwert von 10 µg/kg Lebensmittel und müssen daher bewertet werden. Doch auch wenn das Wissen über Polymerisationsnebenprodukte, Abbauprodukte, etc. immer größer wird, wäre die Identifizierung aller detektierten Substanzen nicht nur extrem kostenintensiv, sondern in der Regel technisch gar nicht möglich.
Wenn man aber nicht einmal weiß, um was für eine Substanz es sich handelt, ist eine toxikologische Evaluierung dieser schlichtweg nicht möglich. Damit ist die gesetzliche Forderung das Risiko durch NIAS zu evaluieren, derzeit in der Regel nicht zufriedenstellend umsetzbar. Vor diesem Dilemma stehen Verpackungshersteller heute.

Aufbau einer umfassenden Datenbank

Eine wichtige Lösungsstrategie ist der Aufbau von immer besseren Datenbanken, die ein immer breiteres Spektrum an zu erwartenden NIAS abdecken, und die Identifizierung erleichtern. Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen am OFI arbeiten hier gemeinsam mit der TU Graz und großen Verpackungsunternehmen an einer Datenbank, in der insbesondere sensorisch relevante NIAS erfasst werden sollen, die eine Geruchsbeeinträchtigung zur Folge haben. Doch trotz aller Fortschritte sind sich fast alle ExpertInnen einig: Auch in Zukunft wird es nicht möglich sein, alle NIAS zu identifizieren. Es wird daher auch an neuen Konzepten für die Risikobewertung gearbeitet, die keine Identifizierung aller migrierenden Stoffe mehr erfordern.

Auf die Menge kommt es an

Hier hilft der alte Grundsatz von Paracelsus: „Die Dosis macht das Gift!“. Denn es gibt zwar eine Unzahl an unterschiedlichen NIAS, der überwiegende Teil dieser Substanzen geht aber nur in sehr geringen Konzentrationen in das Lebensmittel über. Auch die meisten toxischen Substanzen stellen in diesen geringen Konzentrationen keinerlei Gesundheitsrisiko dar. Konzentrieren sollte man sich daher auf jene Substanzen, die bereits in geringsten Mengen gesundheitsschädlich sein können. Hier setzt das OFI bei der Erforschung neuer Zugänge an: Wenn man ausschließen kann, dass hochkritische Substanzgruppen in das Lebensmittel übergehen, könnte das die Risikobewertung wesentlich erleichtern. Hoffnungen setzt man hierbei in In-vitro-Bioassays. Diese biologischen Testsysteme können helfen ganze Substanzgruppen mit einem kritischen biologischen Effekt zu detektieren, zum Beispiel Substanzen die das Erbgut, die DNA schädigen, oder die eine hormonähnliche Wirkung haben. Dabei wird zum Beispiel mit in Kulturgefäßen gezüchteten Humanzellen, oder mit Bakterien gearbeitet.

In-vitro-Bioassays

Die meisten In-vitro Bioassays wurden in erster Linie für die Untersuchung von Chemikalien entwickelt. Bei der Analyse von Verpackungsextrakten und Migraten stellen sich aber ganz andere Herausforderungen. So müssen auch geringe Konzentrationen an kritischen Substanzen verlässlich detektiert werden. Mit entsprechend validierten Methoden, können Bioassays eine sehr wertvolle Ergänzung zur chemischen Analytik sein.

Weltweit gibt es nur wenige Institute, die bereits Erfahrung bei der Anwendung von Bioassays für Lebensmittelkontaktmaterialien vorweisen können. Das OFI gehört dazu. Durch die interdisziplinäre Aufstellung hat man hier schon vor rund acht Jahren begonnen sich intensiv mit In-vitro-Bioassays auseinanderzusetzen. Zunächst lag der Fokus vor allem auf der Detektion hormonell wirksamer Substanzen, Stichwort Bisphenol A. Aktuell arbeitet man an einer Weiterentwicklung um genotoxische Substanzen erfassen zu können. Gemeinsam mit der FH Campus Wien sollen im Projekt MIGRATOX standardisierte In-vitro-Bioassays entwickelt werden, mit denen die Risikobewertung von NIAS erleichtert werden kann. Breite Unterstützung gibt es von der Verpackungs- und Lebensmittelindustrie.

Zukunftsaussicht

Um die steigenden Anforderungen an die Sicherheitsbewertung zu erfüllen, werden In-vitro-Bioassays in der Zukunft vermutlich eine immer wichtigere Rolle bei der Risikobewertung von Verpackungen spielen. Auch große Lebensmittelkonzerne setzen bereits auf diese Technologie. Im Gegensatz zur chemischen Analytik gibt es im Lebensmittelverpackungsbereich noch vergleichsweise wenig Erfahrung mit Bioassays – umso wichtiger ist eine genaue Validierung der Messmethoden, und ein kritisches Hinterfragen und Interpretieren der Ergebnisse. Als Experte auf diesem Gebiet wird das OFI weiterhin sein Know-how in Forschung und Entwicklung einbringen, und mithilfe des Forschungsnetzwerks der ACR (Austrian Cooperative Research) dieses Wissen auch für KMU nutzbar machen.

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ÜBER DEN AUTOR

Michael Washüttl

Michael Washüttl OFI | Austropack | (c) OFI/Michael Pyerin

Michael Washüttl verantwortet am OFI den Bereich Verpackung & Lebensmittel. Seit über 15 Jahren vertrauen Kunden auf seine Expertise bei der Prüfung bestehender und der Entwicklung neuer Verpackungen.


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Christian Kirchnawy

Christian Kirchnawy OFI | austropack | (c) OFI/Michael Pyerin

Christian Kirchnawy ist Projektleiter im Bereich Mikrobiologie & Zellkultur am OFI. 


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